Mittwoch, 14. März 2018

Interpretation „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger


Hans Magnus Enzensberger,
Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer (1962)

Soll der Geier Vergissmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom Schakal,
dass er sich häute; vom Wolf? soll
er sich selber ziehen die Zähne?
was gefällt euch nicht
an Politruks und an Päpsten,
was guckt ihr blöd aus der Wäsche
auf den verlogenen Bildschirm?

Wer näht denn dem General
den Blutstreif an seine Hosen? wer
zerlegt vor dem Wucherer den Kapaun?
wer hängt sich stolz das Blechkreuz
vor den knurrenden Nabel? wer
nimmt das Trinkgeld, den Silberling,
den Schweigepfennig? es gibt
viel Bestohlene, wenig Diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
lechzt denn nach Lüge?

Seht in den Spiegel: feig,
scheuend die Mühsal der Wahrheit,
dem Lernen abgeneigt, das Denken
überantwortend den Wölfen,
der Nasenring euer teuerster Schmuck,
keine Täuschung zu dumm, kein Trost
zu billig, jede Erpressung
ist für euch noch zu milde.

Ihr Lämmer, Schwestern sind,
mit euch verglichen, die Krähen:
ihr blendet einer den andern.
Brüderlichkeit herrscht
unter den Wölfen:
sie gehen in Rudeln.

Gelobt sei´n die Räuber; ihr
einladend zur Vergewaltigung,
werft euch aufs faule Bett
des Gehorsams, winselnd noch
lügt ihr, zerrissen
wollt ihr werden, ihr
ändert die Welt nicht mehr.

Interpretation „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger

Das Gedicht „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1957 thematisiert die Rolle des Volkes in der eigenen Unterdrückung, die von Kant angesprochene selbstverschuldete Unmündigkeit und dekonstruiert die Prämisse der unschuldigen Schafe, die von bösen Wölfen zerrissen werden.

Das Gedicht beginnt damit, dass in den ersten beiden Strophen rhetorische Fragen aneinander gereiht werden. In der ersten Strophe sind diese zunächst abstrakt, es werden wie in einer Fabel Tiere genannt, mit denen wir bestimmte Eigenschaften in Verbindung setzen, hier Aasfresser („Geier“ V.1, „Schakal“ V.2 ), um die ausbeuterische Natur von Politikern dazustellen,  und es wird gefragt, ob diese wider ihrer Natur handeln sollen, ob sich selbst die Zähne ziehen sollen (vgl V.4). Diese Metaphern werden von modernen Beispielen gefolgt, von „Politruks“ und „Päpsten“ (V. 6), beides Ämter, die ideologische Vorschriften machen und der Frage, was uns an ihnen nicht gefällt, wenn wir selbst „auf den verlogenen Bildschirm“ (V. 8) schauen. Mit diesen modernen Begriffen wird sofort klar gemacht, dass es sich nicht um eine abstrakte Moralfabel handelt, sondern, dass es um uns geht und das lyrische Ich die Leser direkt anklagen will.

In der zweiten Strophe geht es weiter mit den rhetorischen Fragen, in denen das lyrische Ich impliziert, dass die „Lämmer“ an ihrer eigenen Situation schuld ist. Das Eisernere Kreuz wird zum „Blechkreuz“ (V. 12) degradiert, welches wir uns vor den „knurrenden“ (V. 13) Bauch hängen, statt uns um unsere Missstände zu kümmern. Es folgt eine dreifache Aufzählung von Symbolen von Bestechlichkeit, die gegen den Leser gerichtet werden (vgl. V14-15) und die Strophe endet mit drei rhetorischen Fragen, in denen die Anschuldigungen an die Leser jeweils gesteigert werden, erst wird gefragt, wer den Wölfen „applaudiert“ (V. 17), ihnen Abzeichen verleiht (vgl. V.18) und schließlich wer nach der Lüge „lechzt“ (V.19). Interessant ist hier die Wortwahl, die deutlich unterstreicht, dass die Lämmer nicht die Unterdrückung passiv hinnehmen, sondern sich nach ihr sehnen.

Die dritte Strophe beginnt damit die Leser im Imperativ aufzufordern, sich selbst zu begutachten und hält ihnen wörtlich den „Spiegel“ (V. 20) vor. Es folgen nicht enden wollende Anschuldigungen, die durch ihre elliptische Form noch dringender gemacht werden. Diese Anschuldigen spielen auf Kants Gedanken zur Aufklärung an. „Feig, scheuend die Mühsal der Wahrheit, dem Lernen abgeneigt“(V.20-23) stehen in Verbindung mit Kants Erkenntnissen, dass Menschen aus „Faulheit und Feigheit[…] unmündig bleiben“ wollen und  „es ist so bequem, unmündig zu sein“. (Zitate aus „Immanuel Kant: Beantwortung der Frage was ist Aufklärung?“)
Das lyrische Ich geht doch einen Schritt weiter als Kant, der meint Menschen nehmen die Unmündigkeit aus Bequemlichkeit an, sondern drückt mit den Worten „das Denken überantwortend den Wölfen, der Nasenring euer teuerster Schmuck“ (V.24-25) aus, dass die Lämmer wegen den Bequemlichkeiten der Unmündigkeit sich freiwillig in Unterdrückung begeben und den Nasenring, das Zeichen eines gezähmten Tiers, stolz als Schmuck tragen. Wegen diesem Ehrgeiz unmündig zu werden urteilt das lyrische Ich hart: „keine Täuschung zu dumm, kein Trost zu billig, jede Erpressung ist für euch noch zu milde.“ (V. 26-28)

Die letzte Strophe wechselt wieder in den direkten Stil der 3. Strophe. Doch nun ist es noch pointierter, es gibt keine rhetorischen Fragen mehr, die Leser werden direkt mit „ihr“ angesprochen, alle Abstraktion ist gewichen. Die Vorwürfe können nicht direkter sein: „einladend zur Vergewaltigung, werft ihr euch aufs faule Bett des Gehorsams.“ (V. 35-37) Der zweite Teil ist wieder auf die These Kants zur Unmündigkeit aus Faulheit bezogen. Das Gedicht endet mit der ungeschmückten Meinung des lyrischen Ichs: „Zerrissen wollt ihr werden. Ich ändert die Welt nicht.“ (V.38-40)

Das Gedicht von Enzensberger wurde in den 50er Jahren und damit im Nachklang der Nazi-Zeit Deutschlands geschrieben und versucht die Prämisse zu dekonstruieren, das nur die Anführer der National-Sozialistischen Partei an den Verbrechen und Menschenrechtsbrüchen Schuld waren. Stattdessen ist das Gedicht eine verdammende Anklage gegen alle, die in einem solchen Staat leben und drückt aus, dass diese Menschen nicht nur Teilschuld haben, weil sie passiv waren und nichts getan haben, sondern mit Sicherheit genauso dafür verantwortlich sind, wie die „bösen Wölfe“.
Dieses Gedicht lässt sich jedoch nicht nur auf den Nationalsozialismus beziehen. Wie oben erwähnt finden sich Motive von Immanuel Kants Idee von Aufklärung und der (Un-)Mündigkeit der Menschen wieder. Vor allem die Meinung, dass sich Menschen gerne in Unmündigkeit begeben. Kant schreibt hierzu: „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar Liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig sich seines eigenen Verstandes zu bedienen[…]“ Nur berichtet Enzensberger hier von den Längen zu denen Menschen bereit sind zu gehen, um die Unmündigkeit wieder zu erlangen, und sei es einen Tyrannen zu wählen, nur um die Schuld von sich zu weisen, nichts tun zu können, da man von einem Tyrannen beherrscht wird.
 
Dies ist eine gute Einleitung in ein anderes Konzept, welches im Gedicht vorkommt, „Doppeldenk“. Etwa 10 Jahre bevor das Gedicht veröffentlicht wurde schrieb George Orwell an seinem dystopischen Roman „1984“, in welchem die Welt von totalitären Regimes regiert wird und sie eine Kunst daraus gemacht haben, die eigene Bevölkerung zu manipulieren, doch diese Bevölkerung auch gerne wie im Gedicht mitspielt. Ein Werkzeug dieser Regime ist das sogenannte Doppeldenk, die Fähigkeit zwischen zwei Wahrheiten hin und her zuschalten, sobald die Partei es benötigt. Ein Beispiel aus dem Roman ist,  wenn die Partei sagt zwei und zwei ergeben fünf, dann ist dies so. Es reicht nicht es nur zu sagen, man muss daran auch überzeugt glauben. Doch kann es für wissenschaftliche Zwecke hilfreich sein, zu wissen, dass zwei und zwei tatsächlich 4 sind, auch wenn die Ideologie der Partei etwas anderes sagt. Die Fähigkeit zwischen diesen beiden Wahrheiten hin und her zu schalten, so wie es für die Partei am besten ist, und an beide zu glauben ist Doppeldenk.
Diese Fähigkeit sich zwischen mehreren Wahrheiten zu bewegen, solange es den eigenen Vorteilen dient, wird auch den Lämmern im Gedicht zugeschrieben. Man kann „Politruks“ und „Päpsten“, die Menschen politische oder ideologische Meinungen vorscheiben, nicht trauen, aber schaut weiterhin gebannt auf den „verlogenen Bildschirm“. Man fühlt sich bestohlen von „Dieben“, aber „applaudiert ihnen“, „steckt die Abzeichen an“ und „lechzt nach der Lüge“. Man trägt den „Nasenring“, das Zeichen der Unterdrückung,  stolz als „Schmuck“ und man lädt ein zur „Vergewaltigung“.
Einer der zentralsten und pointiertesten Sätze des Gedichtes „winselnd noch lügt ihr“ (V.37-38), über den allein man Interpretationen schreiben könnte, und auch gut das Hauptmotiv des Gedichts wiedergibt, strotz nur vor Doppeldenk. Selbst wenn man winselt, unterdrückt und in die Enge getrieben, lügt man, schiebt die Schuld auf andere, beschwert man sich, dass man keine Macht hat um die Situation zu verändern. Denn darum geht es gar nicht man möchte die Welt nicht verändern, denn mit Macht kommt Verantwortung, mit Verantwortung kommt die Möglichkeit des Versagens und hat niemanden, auf den man die Schuld abwälzen kann. Lieber möchte man von den Wölfen zerrissen und vergewaltigt werden, ein Lamm sein, das Opfer spielen, als die Geborgenheit der eigenen Unmündigkeit zu verlassen.  

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