Hans Magnus Enzensberger,
Verteidigung
der Wölfe gegen die Lämmer (1962)
Soll der Geier Vergissmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom Schakal, dass er sich häute; vom Wolf? soll er sich selber ziehen die Zähne? was gefällt euch nicht an Politruks und an Päpsten, was guckt ihr blöd aus der Wäsche auf den verlogenen Bildschirm? Wer näht denn dem General den Blutstreif an seine Hosen? wer zerlegt vor dem Wucherer den Kapaun? wer hängt sich stolz das Blechkreuz vor den knurrenden Nabel? wer nimmt das Trinkgeld, den Silberling, den Schweigepfennig? es gibt viel Bestohlene, wenig Diebe; wer applaudiert ihnen denn, wer lechzt denn nach Lüge? Seht in den Spiegel: feig, scheuend die Mühsal der Wahrheit, dem Lernen abgeneigt, das Denken überantwortend den Wölfen, der Nasenring euer teuerster Schmuck, keine Täuschung zu dumm, kein Trost zu billig, jede Erpressung ist für euch noch zu milde. Ihr Lämmer, Schwestern sind, mit euch verglichen, die Krähen: ihr blendet einer den andern. Brüderlichkeit herrscht unter den Wölfen: sie gehen in Rudeln. Gelobt sei´n die Räuber; ihr einladend zur Vergewaltigung, werft euch aufs faule Bett des Gehorsams, winselnd noch lügt ihr, zerrissen wollt ihr werden, ihr ändert die Welt nicht mehr. |
Interpretation
„Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger
Das Gedicht „Verteidigung der
Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1957
thematisiert die Rolle des Volkes in der eigenen Unterdrückung, die von Kant
angesprochene selbstverschuldete Unmündigkeit und dekonstruiert die Prämisse
der unschuldigen Schafe, die von bösen Wölfen zerrissen werden.
Das Gedicht beginnt damit, dass
in den ersten beiden Strophen rhetorische Fragen aneinander gereiht werden. In
der ersten Strophe sind diese zunächst abstrakt, es werden wie in einer Fabel
Tiere genannt, mit denen wir bestimmte Eigenschaften in Verbindung setzen, hier
Aasfresser („Geier“ V.1, „Schakal“ V.2 ), um die ausbeuterische Natur von
Politikern dazustellen, und es wird
gefragt, ob diese wider ihrer Natur handeln sollen, ob sich selbst die Zähne
ziehen sollen (vgl V.4). Diese Metaphern werden von modernen Beispielen gefolgt,
von „Politruks“ und „Päpsten“ (V. 6), beides Ämter, die ideologische
Vorschriften machen und der Frage, was uns an ihnen nicht gefällt, wenn wir
selbst „auf den verlogenen Bildschirm“ (V. 8) schauen. Mit diesen modernen Begriffen
wird sofort klar gemacht, dass es sich nicht um eine abstrakte Moralfabel
handelt, sondern, dass es um uns geht und das lyrische Ich die Leser direkt
anklagen will.
In der zweiten Strophe geht es
weiter mit den rhetorischen Fragen, in denen das lyrische Ich impliziert, dass
die „Lämmer“ an ihrer eigenen Situation schuld ist. Das Eisernere Kreuz wird
zum „Blechkreuz“ (V. 12) degradiert, welches wir uns vor den „knurrenden“ (V.
13) Bauch hängen, statt uns um unsere Missstände zu kümmern. Es folgt eine
dreifache Aufzählung von Symbolen von Bestechlichkeit, die gegen den Leser
gerichtet werden (vgl. V14-15) und die Strophe endet mit drei rhetorischen
Fragen, in denen die Anschuldigungen an die Leser jeweils gesteigert werden,
erst wird gefragt, wer den Wölfen „applaudiert“ (V. 17), ihnen Abzeichen verleiht
(vgl. V.18) und schließlich wer nach der Lüge „lechzt“ (V.19). Interessant ist
hier die Wortwahl, die deutlich unterstreicht, dass die Lämmer nicht die
Unterdrückung passiv hinnehmen, sondern sich nach ihr sehnen.
Die dritte Strophe beginnt damit
die Leser im Imperativ aufzufordern, sich selbst zu begutachten und hält ihnen
wörtlich den „Spiegel“ (V. 20) vor. Es folgen nicht enden wollende
Anschuldigungen, die durch ihre elliptische Form noch dringender gemacht
werden. Diese Anschuldigen spielen auf Kants Gedanken zur Aufklärung an. „Feig,
scheuend die Mühsal der Wahrheit, dem Lernen abgeneigt“(V.20-23) stehen in
Verbindung mit Kants Erkenntnissen, dass Menschen aus „Faulheit und Feigheit[…]
unmündig bleiben“ wollen und „es ist so
bequem, unmündig zu sein“. (Zitate aus „Immanuel Kant: Beantwortung der Frage
was ist Aufklärung?“)
Das lyrische Ich geht doch einen
Schritt weiter als Kant, der meint Menschen nehmen die Unmündigkeit aus
Bequemlichkeit an, sondern drückt mit den Worten „das Denken überantwortend den
Wölfen, der Nasenring euer teuerster Schmuck“ (V.24-25) aus, dass die Lämmer
wegen den Bequemlichkeiten der Unmündigkeit sich freiwillig in Unterdrückung
begeben und den Nasenring, das Zeichen eines gezähmten Tiers, stolz als Schmuck
tragen. Wegen diesem Ehrgeiz unmündig zu werden urteilt das lyrische Ich hart:
„keine Täuschung zu dumm, kein Trost zu billig, jede Erpressung ist für euch
noch zu milde.“ (V. 26-28)
Die letzte Strophe wechselt
wieder in den direkten Stil der 3. Strophe. Doch nun ist es noch pointierter,
es gibt keine rhetorischen Fragen mehr, die Leser werden direkt mit „ihr“
angesprochen, alle Abstraktion ist gewichen. Die Vorwürfe können nicht direkter
sein: „einladend zur Vergewaltigung, werft ihr euch aufs faule Bett des
Gehorsams.“ (V. 35-37) Der zweite Teil ist wieder auf die These Kants zur
Unmündigkeit aus Faulheit bezogen. Das Gedicht endet mit der ungeschmückten
Meinung des lyrischen Ichs: „Zerrissen wollt ihr werden. Ich ändert die Welt
nicht.“ (V.38-40)
Das Gedicht von Enzensberger
wurde in den 50er Jahren und damit im Nachklang der Nazi-Zeit Deutschlands
geschrieben und versucht die Prämisse zu dekonstruieren, das nur die Anführer
der National-Sozialistischen Partei an den Verbrechen und Menschenrechtsbrüchen
Schuld waren. Stattdessen ist das Gedicht eine verdammende Anklage gegen alle,
die in einem solchen Staat leben und drückt aus, dass diese Menschen nicht nur
Teilschuld haben, weil sie passiv waren und nichts getan haben, sondern mit
Sicherheit genauso dafür verantwortlich sind, wie die „bösen Wölfe“.
Dieses Gedicht lässt sich jedoch
nicht nur auf den Nationalsozialismus beziehen. Wie oben erwähnt finden sich
Motive von Immanuel Kants Idee von Aufklärung und der (Un-)Mündigkeit der
Menschen wieder. Vor allem die Meinung, dass sich Menschen gerne in Unmündigkeit
begeben. Kant schreibt hierzu: „Es ist also für jeden einzelnen Menschen
schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit
herauszuarbeiten. Er hat sie sogar Liebgewonnen und ist vorderhand wirklich
unfähig sich seines eigenen Verstandes zu bedienen[…]“ Nur berichtet
Enzensberger hier von den Längen zu denen Menschen bereit sind zu gehen, um die
Unmündigkeit wieder zu erlangen, und sei es einen Tyrannen zu wählen, nur um
die Schuld von sich zu weisen, nichts tun zu können, da man von einem Tyrannen
beherrscht wird.
Dies ist eine gute Einleitung in
ein anderes Konzept, welches im Gedicht vorkommt, „Doppeldenk“. Etwa 10 Jahre
bevor das Gedicht veröffentlicht wurde schrieb George Orwell an seinem
dystopischen Roman „1984“, in welchem die Welt von totalitären Regimes regiert
wird und sie eine Kunst daraus gemacht haben, die eigene Bevölkerung zu
manipulieren, doch diese Bevölkerung auch gerne wie im Gedicht mitspielt. Ein
Werkzeug dieser Regime ist das sogenannte Doppeldenk, die Fähigkeit zwischen
zwei Wahrheiten hin und her zuschalten, sobald die Partei es benötigt. Ein
Beispiel aus dem Roman ist, wenn die
Partei sagt zwei und zwei ergeben fünf, dann ist dies so. Es reicht nicht es nur
zu sagen, man muss daran auch überzeugt glauben. Doch kann es für
wissenschaftliche Zwecke hilfreich sein, zu wissen, dass zwei und zwei
tatsächlich 4 sind, auch wenn die Ideologie der Partei etwas anderes sagt. Die
Fähigkeit zwischen diesen beiden Wahrheiten hin und her zu schalten, so wie es für
die Partei am besten ist, und an beide zu glauben ist Doppeldenk.
Diese Fähigkeit sich zwischen
mehreren Wahrheiten zu bewegen, solange es den eigenen Vorteilen dient, wird
auch den Lämmern im Gedicht zugeschrieben. Man kann „Politruks“ und „Päpsten“,
die Menschen politische oder ideologische Meinungen vorscheiben, nicht trauen,
aber schaut weiterhin gebannt auf den „verlogenen Bildschirm“. Man fühlt sich
bestohlen von „Dieben“, aber „applaudiert ihnen“, „steckt die Abzeichen an“ und
„lechzt nach der Lüge“. Man trägt den „Nasenring“, das Zeichen der
Unterdrückung, stolz als „Schmuck“ und
man lädt ein zur „Vergewaltigung“.
Einer der zentralsten und
pointiertesten Sätze des Gedichtes „winselnd noch lügt ihr“ (V.37-38), über den
allein man Interpretationen schreiben könnte, und auch gut das Hauptmotiv des
Gedichts wiedergibt, strotz nur vor Doppeldenk. Selbst wenn man winselt,
unterdrückt und in die Enge getrieben, lügt man, schiebt die Schuld auf andere,
beschwert man sich, dass man keine Macht hat um die Situation zu verändern.
Denn darum geht es gar nicht man möchte die Welt nicht verändern, denn mit
Macht kommt Verantwortung, mit Verantwortung kommt die Möglichkeit des Versagens
und hat niemanden, auf den man die Schuld abwälzen kann. Lieber möchte man von
den Wölfen zerrissen und vergewaltigt werden, ein Lamm sein, das Opfer spielen,
als die Geborgenheit der eigenen Unmündigkeit zu verlassen.
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