Mittwoch, 14. März 2018

Interpretation „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger


Hans Magnus Enzensberger,
Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer (1962)

Soll der Geier Vergissmeinnicht fressen?
was verlangt ihr vom Schakal,
dass er sich häute; vom Wolf? soll
er sich selber ziehen die Zähne?
was gefällt euch nicht
an Politruks und an Päpsten,
was guckt ihr blöd aus der Wäsche
auf den verlogenen Bildschirm?

Wer näht denn dem General
den Blutstreif an seine Hosen? wer
zerlegt vor dem Wucherer den Kapaun?
wer hängt sich stolz das Blechkreuz
vor den knurrenden Nabel? wer
nimmt das Trinkgeld, den Silberling,
den Schweigepfennig? es gibt
viel Bestohlene, wenig Diebe; wer
applaudiert ihnen denn, wer
lechzt denn nach Lüge?

Seht in den Spiegel: feig,
scheuend die Mühsal der Wahrheit,
dem Lernen abgeneigt, das Denken
überantwortend den Wölfen,
der Nasenring euer teuerster Schmuck,
keine Täuschung zu dumm, kein Trost
zu billig, jede Erpressung
ist für euch noch zu milde.

Ihr Lämmer, Schwestern sind,
mit euch verglichen, die Krähen:
ihr blendet einer den andern.
Brüderlichkeit herrscht
unter den Wölfen:
sie gehen in Rudeln.

Gelobt sei´n die Räuber; ihr
einladend zur Vergewaltigung,
werft euch aufs faule Bett
des Gehorsams, winselnd noch
lügt ihr, zerrissen
wollt ihr werden, ihr
ändert die Welt nicht mehr.

Interpretation „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger

Das Gedicht „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1957 thematisiert die Rolle des Volkes in der eigenen Unterdrückung, die von Kant angesprochene selbstverschuldete Unmündigkeit und dekonstruiert die Prämisse der unschuldigen Schafe, die von bösen Wölfen zerrissen werden.

Das Gedicht beginnt damit, dass in den ersten beiden Strophen rhetorische Fragen aneinander gereiht werden. In der ersten Strophe sind diese zunächst abstrakt, es werden wie in einer Fabel Tiere genannt, mit denen wir bestimmte Eigenschaften in Verbindung setzen, hier Aasfresser („Geier“ V.1, „Schakal“ V.2 ), um die ausbeuterische Natur von Politikern dazustellen,  und es wird gefragt, ob diese wider ihrer Natur handeln sollen, ob sich selbst die Zähne ziehen sollen (vgl V.4). Diese Metaphern werden von modernen Beispielen gefolgt, von „Politruks“ und „Päpsten“ (V. 6), beides Ämter, die ideologische Vorschriften machen und der Frage, was uns an ihnen nicht gefällt, wenn wir selbst „auf den verlogenen Bildschirm“ (V. 8) schauen. Mit diesen modernen Begriffen wird sofort klar gemacht, dass es sich nicht um eine abstrakte Moralfabel handelt, sondern, dass es um uns geht und das lyrische Ich die Leser direkt anklagen will.

In der zweiten Strophe geht es weiter mit den rhetorischen Fragen, in denen das lyrische Ich impliziert, dass die „Lämmer“ an ihrer eigenen Situation schuld ist. Das Eisernere Kreuz wird zum „Blechkreuz“ (V. 12) degradiert, welches wir uns vor den „knurrenden“ (V. 13) Bauch hängen, statt uns um unsere Missstände zu kümmern. Es folgt eine dreifache Aufzählung von Symbolen von Bestechlichkeit, die gegen den Leser gerichtet werden (vgl. V14-15) und die Strophe endet mit drei rhetorischen Fragen, in denen die Anschuldigungen an die Leser jeweils gesteigert werden, erst wird gefragt, wer den Wölfen „applaudiert“ (V. 17), ihnen Abzeichen verleiht (vgl. V.18) und schließlich wer nach der Lüge „lechzt“ (V.19). Interessant ist hier die Wortwahl, die deutlich unterstreicht, dass die Lämmer nicht die Unterdrückung passiv hinnehmen, sondern sich nach ihr sehnen.

Die dritte Strophe beginnt damit die Leser im Imperativ aufzufordern, sich selbst zu begutachten und hält ihnen wörtlich den „Spiegel“ (V. 20) vor. Es folgen nicht enden wollende Anschuldigungen, die durch ihre elliptische Form noch dringender gemacht werden. Diese Anschuldigen spielen auf Kants Gedanken zur Aufklärung an. „Feig, scheuend die Mühsal der Wahrheit, dem Lernen abgeneigt“(V.20-23) stehen in Verbindung mit Kants Erkenntnissen, dass Menschen aus „Faulheit und Feigheit[…] unmündig bleiben“ wollen und  „es ist so bequem, unmündig zu sein“. (Zitate aus „Immanuel Kant: Beantwortung der Frage was ist Aufklärung?“)
Das lyrische Ich geht doch einen Schritt weiter als Kant, der meint Menschen nehmen die Unmündigkeit aus Bequemlichkeit an, sondern drückt mit den Worten „das Denken überantwortend den Wölfen, der Nasenring euer teuerster Schmuck“ (V.24-25) aus, dass die Lämmer wegen den Bequemlichkeiten der Unmündigkeit sich freiwillig in Unterdrückung begeben und den Nasenring, das Zeichen eines gezähmten Tiers, stolz als Schmuck tragen. Wegen diesem Ehrgeiz unmündig zu werden urteilt das lyrische Ich hart: „keine Täuschung zu dumm, kein Trost zu billig, jede Erpressung ist für euch noch zu milde.“ (V. 26-28)

Die letzte Strophe wechselt wieder in den direkten Stil der 3. Strophe. Doch nun ist es noch pointierter, es gibt keine rhetorischen Fragen mehr, die Leser werden direkt mit „ihr“ angesprochen, alle Abstraktion ist gewichen. Die Vorwürfe können nicht direkter sein: „einladend zur Vergewaltigung, werft ihr euch aufs faule Bett des Gehorsams.“ (V. 35-37) Der zweite Teil ist wieder auf die These Kants zur Unmündigkeit aus Faulheit bezogen. Das Gedicht endet mit der ungeschmückten Meinung des lyrischen Ichs: „Zerrissen wollt ihr werden. Ich ändert die Welt nicht.“ (V.38-40)

Das Gedicht von Enzensberger wurde in den 50er Jahren und damit im Nachklang der Nazi-Zeit Deutschlands geschrieben und versucht die Prämisse zu dekonstruieren, das nur die Anführer der National-Sozialistischen Partei an den Verbrechen und Menschenrechtsbrüchen Schuld waren. Stattdessen ist das Gedicht eine verdammende Anklage gegen alle, die in einem solchen Staat leben und drückt aus, dass diese Menschen nicht nur Teilschuld haben, weil sie passiv waren und nichts getan haben, sondern mit Sicherheit genauso dafür verantwortlich sind, wie die „bösen Wölfe“.
Dieses Gedicht lässt sich jedoch nicht nur auf den Nationalsozialismus beziehen. Wie oben erwähnt finden sich Motive von Immanuel Kants Idee von Aufklärung und der (Un-)Mündigkeit der Menschen wieder. Vor allem die Meinung, dass sich Menschen gerne in Unmündigkeit begeben. Kant schreibt hierzu: „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar Liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig sich seines eigenen Verstandes zu bedienen[…]“ Nur berichtet Enzensberger hier von den Längen zu denen Menschen bereit sind zu gehen, um die Unmündigkeit wieder zu erlangen, und sei es einen Tyrannen zu wählen, nur um die Schuld von sich zu weisen, nichts tun zu können, da man von einem Tyrannen beherrscht wird.
 
Dies ist eine gute Einleitung in ein anderes Konzept, welches im Gedicht vorkommt, „Doppeldenk“. Etwa 10 Jahre bevor das Gedicht veröffentlicht wurde schrieb George Orwell an seinem dystopischen Roman „1984“, in welchem die Welt von totalitären Regimes regiert wird und sie eine Kunst daraus gemacht haben, die eigene Bevölkerung zu manipulieren, doch diese Bevölkerung auch gerne wie im Gedicht mitspielt. Ein Werkzeug dieser Regime ist das sogenannte Doppeldenk, die Fähigkeit zwischen zwei Wahrheiten hin und her zuschalten, sobald die Partei es benötigt. Ein Beispiel aus dem Roman ist,  wenn die Partei sagt zwei und zwei ergeben fünf, dann ist dies so. Es reicht nicht es nur zu sagen, man muss daran auch überzeugt glauben. Doch kann es für wissenschaftliche Zwecke hilfreich sein, zu wissen, dass zwei und zwei tatsächlich 4 sind, auch wenn die Ideologie der Partei etwas anderes sagt. Die Fähigkeit zwischen diesen beiden Wahrheiten hin und her zu schalten, so wie es für die Partei am besten ist, und an beide zu glauben ist Doppeldenk.
Diese Fähigkeit sich zwischen mehreren Wahrheiten zu bewegen, solange es den eigenen Vorteilen dient, wird auch den Lämmern im Gedicht zugeschrieben. Man kann „Politruks“ und „Päpsten“, die Menschen politische oder ideologische Meinungen vorscheiben, nicht trauen, aber schaut weiterhin gebannt auf den „verlogenen Bildschirm“. Man fühlt sich bestohlen von „Dieben“, aber „applaudiert ihnen“, „steckt die Abzeichen an“ und „lechzt nach der Lüge“. Man trägt den „Nasenring“, das Zeichen der Unterdrückung,  stolz als „Schmuck“ und man lädt ein zur „Vergewaltigung“.
Einer der zentralsten und pointiertesten Sätze des Gedichtes „winselnd noch lügt ihr“ (V.37-38), über den allein man Interpretationen schreiben könnte, und auch gut das Hauptmotiv des Gedichts wiedergibt, strotz nur vor Doppeldenk. Selbst wenn man winselt, unterdrückt und in die Enge getrieben, lügt man, schiebt die Schuld auf andere, beschwert man sich, dass man keine Macht hat um die Situation zu verändern. Denn darum geht es gar nicht man möchte die Welt nicht verändern, denn mit Macht kommt Verantwortung, mit Verantwortung kommt die Möglichkeit des Versagens und hat niemanden, auf den man die Schuld abwälzen kann. Lieber möchte man von den Wölfen zerrissen und vergewaltigt werden, ein Lamm sein, das Opfer spielen, als die Geborgenheit der eigenen Unmündigkeit zu verlassen.  

Montag, 12. März 2018

Kingdom und das Entstehen von Königreichen


Während des Spielens des schönen Indie-Games „Kingdom“ von Raw Fury sind mir einige Parallelen zwischen dem Spiel und der Geschichte des frühen Mittelalters aufgefallen. Im folgenden Text versuche ich diese Parallelen mithilfe von einigen Beispielen aufzuzeigen.

Zum Beginn sieht man, dass das vorige Königreich zerfallen ist und Unordnung herrscht. Alle Menschen sind nur mit dem eigenem  Überleben beschäftigt und damit ist die Förderung der Zivilisation zum Stillstand gekommen. Die geschichtliche Parallele hierzu wäre der Verfall des Römischen Reiches und das daraus entstandene Machtvakuum. Doch in diesem Vakuum erscheint ein König mit Autorität und Geld. Im Spiel wird dies einfach ausgegeben, jedoch werden in Realität diese Bedingungen zum Herrschen in den Wirren des Römischen Zerfalls und der Völkerwanderung gewonnen sein. Das Geld könnte als geplünderter Schatz aus den römischen Provinzen oder Rom selbst stammen und die Autorität könnte Kampferfahrung gegen andere Stämme oder die Überreste der Römischen Armeen sein. Das gewonnene Geld darf jedoch nicht als Hortgold versteckt oder gehortet, sondern muss an Untergebene verteilt werden damit eine Gesellschaft entstehen kann.
Im Spiel beginnt man damit Bogenschützen als Jäger bzw. Krieger zur Verteidigung anzuheuern und Handwerker mit dem Bau einer Siedlung mit Verteidigungsanlagen zu beauftragen. Durch diese Investition des Herrschers erschafft er neue Berufe und eine rudimentäre Arbeitsteilung. Die Nahrungsbeschaffung ist durch die jagenden Krieger gesichert, also können sich die Handwerker auf ihren Beruf konzentrieren, statt mehrere Berufe auf einmal zu bewältigen (Bauer/Jäger zur Nahrungsbeschaffung, Krieger zur Selbstverteidigung, Handwerker zu Ausführung von Reparaturen etc.) wie vor der Arbeitsteilung. Der König kann nun Steuern auf seine Untertanen erheben und erhält so seine Investition zurück. Das Geld investiert er wieder in sein Königreich, welches dadurch weiter wächst. Durch gewährte Sicherheit, gesicherte Nahrung und Berufe werden weitere Bewohner in das Königreich gelockt.
Dieses Wachstum bedeutet eine größere Nachfrage an Nahrung. Diese kann von den Neuankömmlingen selbst bewältigt werden, da die Arbeitsteilung vergrößert wird indem sich Bauern ausschließlich auf die Landwirtschaft konzentrieren und die Krieger nur noch kämpfen. Jedoch wird  hierfür mehr Land benötigt. Der König gibt nun die Abholzung und Rodung von Wäldern in Auftrag und neues, bebaubares Land wird befriedet und erobert. Der König besteuert nun diese Bauern und die Wirtschaft des Königreiches wächst. Durch das Wirtschaftswachstum werden auch Kaufleute angezogen, die ihre Waren im Königreich verkaufen. Diese Trends gab es auch tatsächlich. Ab dem 10. Jahrhundert wurde im 10. Jahrhundert eine eigene Kriegerkaste eingeführt, um mehr Spezialisierung und Arbeitsteilung zu erhalten, auch wenn es den Bauern Rechte kostete, wie beispielsweise mit dem Pferd in die Schlacht zu ziehen. Außerdem wurden um diese Zeit viele Sümpfe trocken gelegt und Wälder gerodet um mehr Ackerland für die wachsende Bevölkerung zu erhalten. Es gibt bspw. aus dieser Zeit viele Siedlungen mit der Silbe „Rod“ im Namen.
Die Arbeitsteilung verfeinert sich im Spiel noch mehr mit dem Auftritt von Rittern, die nur noch auf dem Kampf spezialisiert ist. Wie in der Realität fressen Militärausgaben im Spiel die Steuern auf, und so muss sich der König direkt an die Bauern wenden, wie er das in der Vergangenheit auch oft tun musste. Aber die Organisation des Militärs verbessert sich auch im Laufe der Zeit, die Ritter tragen Wappen und die Krieger werden langsam zu Soldaten, ihre grau-braunen Mäntel werden zu Uniformen in der Farbe des königlichen Wappens.
Die Gewinne des Königs bleiben jedoch nicht nur in der eigenen Tasche, Überschüsse können am Architekturschrein in verbesserte Verteidigungsanlagen investiert werden, die der Sicherheit aller dienen, oder den Göttern als Opfer dargebracht werden, um sie wohlzustimmen. Außerdem gibt es im Spiel die wohl bildlichste Darstellung von „Trickle-Down-Economics“, denn wenn der Beutel des Königs zum Überlaufen voll ist, fallen die überschüssigen Münzen auf den Boden, wo die Untertanen sie aufsammeln.
So hat sich von nichts eine arbeitsteilige Gesellschaft geformt in der es eine Kriegerkaste gibt, die Sicherheit aller übernimmt, und es Berufe gibt, in denen sich ausschließlich mit der Herstellung oder dem Handel von Materialen und Ressourcen beschäftigt wird. Außerdem werden durch die boomende
Wirtschaft Technologie und Kultur gefördert, wo am Anfang Menschen noch ums nackte Überleben kämpften.
Die Monster im Spiel sind mit Räubern, Banditen, Marodeuren und Plünderern zu vergleichen. Im Zeitalter nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs versuchten verschiedenste Stämme und Fraktionen, sich dessen zu bemächtigen, was nun nicht mehr beschützt wurde. Die Monster sind hinter den Goldmünzen und hinter der Krone her, wenn man sie fallen lässt hauen sie mit den Goldmünzen ab. Sie töten nur Krieger und lassen Zivilisten in Ruhe, wenn sie nicht mehr zum König gehören und scheinen nur Chaos zusähen. Sie erinnern mich an Wikinger, die über die wiederaufgebauten Königreiche der Angelsachsen herfielen. Sie plündern und verschwinden wieder so wie es die Monster im Spiel ebenfalls tun würden. Es erscheint so als könne man sich von ihnen freikaufen, so wie es Æthelred der Unberatene, König von England, versuchte, aber er stand lediglich der nächsten Invasion mit weniger Geldmitteln gegenüber. Doch die einzige funktionierende Taktik ist die von Alfred dem Großen, König von Wessex. Dieser ließ im ganzen Reich Burgen und befestigte Städte errichten, um die schnellen Plünderzüge, für die die Wikinger berüchtigt waren zu unterbinden und sie, als er stark genug war, im Feld zu schlagen, wie etwa im Spiel, wo man verteidigen ausharrt, bis man mit Feldzügen gegen die Portale zurück schlägt. Alfred der Große rettete so Wessex, das einzige nicht eroberte angelsächsische Königreich vor dem Untergang, und begann die Rückeroberung und Einigung der Königreiche zu der Nation England.
Jedoch ist in dem Spiel ein Scheitern inbegriffen. So war es auch in der Geschichte dieser Zeit, dass es ein Versuch war, das Alte wiederaufleben zu lassen, was aber niemanden wirklich gelang. Könige wie Alfred und Karl der Große waren sehr nahe dran, und waren Lichtblicke im sogenannten finsteren Mittelalter, jedoch verloschen diese im Laufe der Zeit und Scheiterten an ihren Nachfolgern und machten klar, dass das Zeitalter des Römischen Reiches doch tatsächlich vorbei war.
So schafft es „Kindom“ sehr anschaulich, die Entwicklung vom Chaos nach dem Verfall des römischen Reiches bis zum kulturellen Hochpunkt des Hohen Mittelalters darzustellen, verbunden mit vielen „Aha“-Momenten und zeigt auch fundamentale Funktionen von Geld und Macht auf – und durch seine schöne Präsentation und Spielspaß ist es auch ein schöner Zeitvertreib.



Mittwoch, 7. März 2018

Wie wäre es gebildet zu sein?

Anmerkung: Dies ist ein Schulprojekt, in welchem wir uns mit der Frage „Wie wäre es gebildet zu sein?“ mithilfe des Buches "Was ist Bildung?" beschäftigen sollten. Ich habe mich sehr persönlich mit dieser Frage auseinander gesetzt und mir haben die Antworten selbst geholfen mich und meine Ziele zu definieren. Aus diesem Grund möchte ich meine Ergebnisse hier veröffentlichen.


1. Einleitung

In diesem Text  werde ich versuchen die Frage zu beantworten: „Wie wäre es gebildet zu sein?“
In dieser Einleitung werde ich kurz erläutern, wie ich hierbei vorgegangen bin. Zuerst klärte ich unter 2. die Bedeutung der Bildung für mich, hauptsächlich mithilfe des Buches „Was ist Bildung?“ aus dem Reclam-Verlag aus dem Jahre 2013.
Unter 3. überprüfte ich, ob mit meiner Definition der Bildung es überhaupt möglich ist einen Zustand der Bildung zu erreichen, welches die Leitfrage dieser Arbeit impliziert, und wieso dies so ist.
Da ich in diesem Punkt herausfand, dass dem nicht so war, stellte ich die zentrale Frage um in „Was erwarte ich mir von Bildung?“ Diese Frage beantwortete ich für mich persönlich unter dem Punkt 4.
  
2. Was ist Bildung für mich?

Für die meisten Leute scheint Bildung etwas zu sein, was man erreichen kann. Ich habe ein bestimmtes Fach studiert, nun bin ich in diesem Fach gebildet. Ich habe eine Berufsausbildung gemacht, nun bin ich für dieses Feld der Arbeit gebildet. Ich habe eine Reihe Sachbücher gelesen oder ein paar Lehrvideos gesehen und nun bin ich gebildet genug, um eine Unterhaltung darüber zu führen.
Es gibt in verschiedensten Bereichen Fachbegriffe, um darzustellen, wie gebildet man ist. Bei Sprachen spricht man von Anfängern bis zu Muttersprachlern, in der Schule gibt es die verschiedenen Zweige und bei dem Studium gibt es den Bachelor und den Masterabschluss, so als sei Bildung eine Flüssigkeit und der Mensch ein Behälter und diese Titel sind Messstriche die Anzeigen wie voll das Gefäß ist. Und auch die Fragestellung dieser Arbeit impliziert, dass wir irgendwann gebildet sein wollen.
Ich finde hingegen, dass Bildung nicht einfach ein Zustand ist den man erreichen kann, das Wort selbst deutet es an. Bildung – etwas bildet sich und nicht es hat sich gebildet. Ich stimme Reinhardt Koselleck zu, wenn dieser Bildung als eine Lebensführung bezeichnet, auch wenn wir uns über die genaue Art dieser Lebensführung nicht einig sind.[1]

Peter Bieri sagt, Bildung beginnt mit der Neugierde. „Man töte in jemanden die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt.“[2] Für mich ist der erste Teil von Bildung, sich dieser Neugier hingeben zu können. Sich bewusst mit der Welt und der Sachen auf ihr, die einen interessieren, auseinander zu setzen. Mir selbst ging es so, dass ich schon immer ein Interesse an der Welt um mich hatte und mir es Spaß macht, über alles Mögliche nachzudenken und mich zu informieren. Politik und Wirtschaft, Erdkunde, Religion und Geschichte waren in der Schule von Anfang an meine Lieblingsfächer, da sie mir ermöglichten, mir ein Bild von der Welt zu machen.
Aber Neugier und die Erfüllung derselben macht noch lange keine Bildung. Man darf sich nicht zufrieden geben mit dem, was man gelernt hat. So erging es mir nach einer Weile in der Schule, das Politikbuch war veraltet und wir lernten von den politischen Ereignissen von vor acht Jahren, Erdkunde war nur noch Auswendiglernen, ich war der einzige der sich für tiefe Philosophische Fragen interessierte und in Geschichte wurde nicht mehr gelehrt was interessant war, sondern was auf dem Lehrplan stand. So war es an mir mich in meiner privaten Zeit zu über die Schule und deren Lehrplan hinaus zu bilden. Von da an wurde mein Anspruch immer höher und ich wurde immer skeptischer und stellte mehr und mehr Fragen.
Diesen Prozess beschreibt Bieri in seinem Text als Bildung als Aufklärung. Er schreibt: „Es heißt sich Fragen vorzulegen: Was weiß ich und verstehe ich wirklich? (…) Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verlässlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei? (…) Wann macht ein Ereignis ein anderes wahrscheinlich? Was ist ein Gesetz im Unterschied zu einer zufälligen Korrelation? Was unterscheidet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung?“[3]
Die gleichen Fragen stellte ich immer häufiger. Aber ich stellte mich selbst auch immer infrage. Habe ich etwas übersehen? Habe ich etwas falsch verstanden? So gehe ich sicher, dass ich selbst keine Fehler mache und mich auch nicht bilde um selbst Recht zu haben.
Durch diese Fragen und durch die Skepsis kann ich schwache Argumente sofort erkennen, ohne von dem Thema selbst besonders viel Ahnung zu haben. Der gleichen Meinung ist auch Bieri, der schreibt:
„Jemand, der in diesen Dingen wach ist, wird skeptische Distanz wahren, nicht nur gegenüber  esoterischer Literatur, sondern auch gegenüber wirtschaftlichen Prognosen, Wahlkampfargumenten, psychotherapeutischen Versprechungen und dreisten Anmaßungen der Gehirnforschung.
Und er wird gereizt, wenn er hört, wie andere Wissenschaftsformeln nur nachplappern. Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloß rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken zu unterscheiden. Er kann das, weil ihm zwei Fragen zur zweiten Natur geworden sind: ‚Was genau heißt das? ‘ und ‚Woher wissen wir, dass es so ist?‘ Das immer wieder zu fragen macht resistent gegenüber rhetorischem Drill, Gehirnwäsche und Sektenzugehörigkeit, und es schärft die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens, gegenüber modischen Trends und jeder Form von Mitläufertum. Man kann nicht mehr geblufft werden, Schwätzer, Gurus und anmaßende Journalisten haben keine Chance. Das ist ein hohes Gut, und sein Name ist: gedankliche Unbestechlichkeit.“[4] (Anmerkung: Durch eine selbstkritische Natur ist es mir möglich, hier über die Ironie zu lachen, dass ich jemanden zitiere, der verachtend vom „Nachplappern“ spricht)

Im Laufe der Zeit spezialisierte ich mich mehr und mehr auf das Fach Geschichte, da ich herausfand, dass unsere Kultur, Gesellschaft, Politik, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft und ja einfach alles seinen Ursprung in Geschichte hat. Durch das genaue Studium der  Geschichte werden moderne Probleme und Streitpunkte klarer und können einfacher beigelegt werden. So konnte ich mit einem Grundverständnis von Geschichte mit Menschen, die sich auf ein bestimmtes Feld spezialisiert hatten, Unterhaltungen führen und mit ihnen mithalten, ohne so viel Spezialwissen zu haben wie sie. Bieri schreibt, das Bewusstsein des Gebildeten ist geprägt von historischer Neugier: „Wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, fühlen, reden und leben?“[5]
Und durch ein unabhängiges Studium der Geschichte erlangt man ein Bewusstsein der historischen Zufälligkeit. Dies bedeutet zu sehen, dass unsere Kultur nur ein Ergebnis einer langen Entwicklung war und nicht dass eine lange Entwicklung nur dafür da war, uns zu produzieren. Und ich stimme Bieris Beschreibung zu, wenn dieser schreibt: „Es drückt sich aus in der  Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und ihr gegenüber eine ironische und spielerische Einstellung einzunehmen. Das heißt nicht: sich nicht zu der eigenen Lebensform zu bekennen. Es heißt nur, sich von dem naiven und arrogantem Gedanken abzurücken, die eigene Lebensform sei einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere.“[6]
Und sobald man dafür ein Verständnis entwickelt hat, wird man ein offenerer Mensch und ermöglicht Neugier und Interesse in die unterschiedlichsten Themen: „wissen zu wollen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Sprache, Gegend und Zeit, auch in einem anderem Klima aufzuwachsen. Wie es wäre in einem anderen Beruf, einer anderen sozialen Schicht zu Hause zu sein. Ich habe das Bedürfnis nach wachem Reisen, um meine inneren Grenzen zu erweitern.“[7]
Und Bieri schließt mit einer Definition ab, der ich mich auch selbst nur anschließen möchte: „Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.“[8] So lernt man aus der Geschichte, dass Technologie eine Kultur nicht besser macht. Zwar verbreitete der Buchdruck Bücher an alle Schichten der Gesellschaft, allerdings sind Bücher nicht mehr so kunstvoll wie im Mittelalter, verziert mit Bilderhandschrift und unglaublicher Liebe zum Detail. Würde man einem Illuminator aus dem Mittelalter, dessen Aufgabe es war Bücher zu kopieren, ein modernes Buch zeigen, würde dieser vielleicht entgegnen, unsere Bücher seien langweilig, lieblos und ja, geradezu primitiv, und würde weiterhin froh sein, Bücher per Hand herzustellen.

Doch Bildung bedeutet weiterhin, die Informationen und das Wissen, welches man erlangt, nicht bloß in der hintersten Ecke des Gehirns verschimmeln zu lassen, sondern mit diesem Wissen zu handeln. Dies muss schon im Kopf passieren. Ob man ein Gebildeter ist, lasst sich an der Einstellung sehen, mit der er arbeitet. Bieri schreibt, „der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern. (…) Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung. Dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird.“[9]
Diese Einstellung ist für die Bildung sehr wichtig, denn wenn man sich nicht an das gelernte Wissen anpasst, wird man unweigerlich das Wissen so anpassen, dass es einem passt. Hierbei entstehen jedoch nur Halbbildung und Fehlinformation. Ich kenne dies selbst nur zu gut. Immer wieder sehe ich Menschen, die sich schon bevor sie sich in ein Thema vertiefen eine Meinung gebildet haben. Und wenn sie sich dann mit diesem Thema auseinander setzen, dann finden sie auch immer nur die Antworten, nach denen sie gesucht haben und können sich nicht eine neue Meinung bilden. Bieri nennt diese Menschen ungebildete Gelehrte.
Weiter nimmt Bieri mir die Wörter aus dem Mund wenn er schreibt: „Der Leser von Sachbüchern hat einen Chor von Stimmen im Kopf, wenn er nach einem richtigen Urteil einer Sache sucht. Er ist nicht allein. (…) Er sieht die Welt danach anders, kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen.“ [10]  
Durch mein Interesse in Geschichte lese ich ständig Sachbücher, deren Meinungen manchmal miteinander konkurrieren. Doch hier ist es wichtig, sich nicht einfach einer Meinung anzuschließen und alle anderen zu ignorieren, sondern in dem gesamten Chor von Meinungen nach einem richtigen Urteil suchen. Und dies ermöglicht einem die Welt besser zu verstehen und einfacher zu interpretieren.

Es ist jedoch nicht immer einfach, dem Lebensstil der Bildung zu folgen. Denn in dem Streben die Neugier zu sättigen, wird man auf Wissen stoßen, welches wir lieber nicht gehabt hätten. Bieri schreibt hier: „Besonders schwierig ist es dann, wenn das Fremde die eigenen moralischen Erwartungen verletzt. Was machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des Lebens ist?“[11]
Doch ist es wichtig, hier nicht vor Grausamkeiten die Augen zu verschließen, denn sinnlose Romantisierung verhindert Bildung. Peter Bieri und ich sprechen aus dem gleichen Mund wenn dieser sagt: „Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit.“[12]
Aber dies sollte kein Problem darstellen, wenn man mit der richtigen Einstellung an das Lernen geht. Man sollte hier immer aus Neugier lernen und nicht auf ein bestimmtes Ziel hin, so wie Schopenhauer es in den Schulen bemerkt: „Jene lehren, um Geld zu verdienen, und streben nicht nach Weisheit, sondern nach dem Schein und Kredit derselben; diese lernen nicht, um Kenntnis und Einsicht zu erlangen, sondern um schwätzen zu können und sich ein Ansehn zu geben.“[13] Wenn man lernt, liest oder studiert für einen anderen Grund, außer um die Welt zu erforschen und eine objektive Wahrheit zu finden, sondern dies nur tut um Recht zu haben und um als gebildet dazustehen, kann man meiner Meinung nach nie von wahrer Bildung sprechen. Schopenhauer beschreibt weiter, wie ich es selbst schon gesehen habe, wie sich diese Menschen verhalten: „Alle dreißig Jahre tut sich ein neues Geschlecht auf, ein Guckindiewelt, der von nichts weiß und nun die Resultate des durch die Jahrtausende angesammelten menschlichen Wissens, summarisch, in aller Geschwindigkeit in sich fressen und dann klüger als alle Vergangenheit sein will. Zu diesem Zweck bezieht er Universitäten und greift nach den Büchern, und zwar nach den neuesten als seinen Zeit- und Altersgenossen. Nur alles kurz und neu! Wie er selbst neu ist. Dann urteilt er darauf los.“[14]
Dies passiert häufiger in dem Fach Geschichte, wo viele Interessierte einen bestimmten Autor mögen oder, im Zeitalter des Internets, einen YouTube-Kanal oder einen Podcast über Geschichte, und alles was diese Person/en zu sagen haben aufsaugen und dann anfangen, jeder anderen Meinung zu erzählen, sie sei falsch.

Abschließend möchte ich noch einmal zusammenfassen, was genau für mich Bildung bedeutet. Bildung ist für mich ein Prozess, eine Art des Seins, ein Lebensstil. Dieser kann für jeden anders aussehen, aber er hat doch einige bestimmende Merkmale. Erstens eine große Neugier und die Fähigkeit, sich der Neugier offen hinzugeben. Zweitens das Entwickeln einer wissenschaftlichen Skepsis und Selbstkritik. Drittens die Entwicklung einer Offenheit gegenüber verschiedenen Arten zu leben. Und zuletzt, nie das Ziel zu haben, sich für irgendein greifbares Ziel zu bilden. Jeder, der diese Merkmale erfüllt, ist ein Gebildeter, egal ob Student oder Professor. Das ist für mich Bildung. 

3. Kann man überhaupt gebildet sein?

In diesem Abschnitt möchte ich noch einmal auf die zentrale Frage dieser Arbeit zurückkommen: „Wie wäre es gebildet zu sein?“ Um diese Frage zu beantworten müssen wir zuerst klären, was Bildung ist. Dies habe ich im vorherigen Abschnitt getan. Doch in meiner Definition von Bildung beschreibe ich, dass Bildung kein Zustand ist, den man erreichen kann, was allerdings mit der Leitfrage dieser Arbeit im direkten Konflikt steht, da es in ihr im Präteritum heißt, dass man gebildet sein kann. Daher werde ich die Frage für den nächsten Abschnitt (4.) umformulieren in „Was erwarte ich mir von Bildung?“, da ich glaube, dass diese Formulierung dem Geist der originalen Leitfrage nahe kommt und mir eine ausführliche Beantwortung ermöglicht. Allerdings werde ich zuerst noch weiter erläutern, wieso Bildung nicht ein erreichbarer Zustand sein kann.
Also, wieso kann man Bildung nicht erreichen? Die einfachste Antwort auf diese Frage ist, weil man nie auslernt. Wie ich oben erläuterte, ist ein gebildeter Mensch von einer ständigen Neugier bestimmt. Er arbeitet eben nicht auf ein bestimmtes Ziel hin, welches er erreichen kann. Die einzigen Menschen, die glauben sie hätten alles Interessante auf dieser Welt gelernt, sind entweder zynisch oder naiv. Die Menschen, die lernten um ein Ziel zu erreichen oder die Zynischen und Naiven, waren allerdings von Anfang an halb oder ungebildet. Wahrhaft gebildete Menschen sehen immer, dass es noch unendlich viele Sachen zu lernen, verstehen oder entdecken gibt und werden nicht aufhören gebildet zu sein.

4. Was erwarte ich mir von Bildung?

Nun, diese Frage könnte ich übergreifend sehr kurz beantworten, sogar nur in einem Wort. Alles. Ich erwarte mir alles von Bildung.
Um dies ein wenig weiter zu erläutern, möchte ich an dieser Stelle in ein japanisches Konzept einführen und zwar Ikigai (jap. 生き甲斐). Ikigai bedeutet frei „das, wofür es sich zu leben lohnt“, „die Freude und das Lebensziel“ oder salopp „der Grund, weswegen ich morgens aufstehe“. In Japan glaubt man, jeder Mensch habe seinen eigenen Ikigai und wenn man ihn findet oder gefunden hat, erfüllt es das Gefühl der Lebensfreude und innere Zufriedenheit. Ikigai ist oft eine Kombination aus dem, was man liebt, worin man gut ist, wofür man bezahlt werden kann und etwas, was die Welt braucht.
Vor etwa einem dreiviertel Jahr habe ich mein persönliches Ikigai gefunden, auch wenn ich den Begriff Ikigai erst vor wenigen Wochen entdeckte. Ich befand mich gerade in 2. Jahr meiner Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation bei der Stadtverwaltung Frankfurt am Main. Obwohl es ein sicherer Beruf mit Tarifzahlung und Übernahmegarantie war, fühlte ich mich dort nie richtig wohl. Ich war unterfordert, die Arbeit interessierte mich nicht und obwohl es eigentlich einfach war, machte ich ständig Fehler, weil ich mich nicht konzentrieren konnte. Doch meine Leistung dort war eigentlich kein Problem. Ich stand in der Ausbildung immer noch durchschnittlich auf einer Drei und es gab noch Schlechtere in unserem Ausbildungslehrgang. Alles was ich tun musste, war mich aufzuraffen und mich zu konzentrieren und ich hätte etwas gehabt, wovon andere Menschen träumten, einen sicheren, wohlverdienenden Job. Doch ich konnte es einfach nicht und ich wusste nicht genau wieso.
Ich hatte mich schon einige Jahre vor meiner Ausbildung unter anderem für Geschichte interessiert, wie ich es schon weiter oben geschildert habe, doch besonders während meiner Ausbildung spezialisierte ich mich mehr in Richtung Geschichte. Ich las Sachbücher und Romane, konsumierte alle möglichen Medien, die auch nur ansatzweise etwas mit Geschichte zu tun hatten, diskutierte auf Online-Foren und stellte meine eigenen Theorien auf. Ich verbrachte immer Zeit mit Geschichte, sodass es sich auf die Arbeit auswirkte. Erst machte ich Nächte durch und war noch unkonzentrierter auf der Arbeit und kam immer öfters zu spät. Doch nach einer Weile fing ich an, die Ausbildung zu schwänzen, da ich einfach nicht die Energie aufbringen konnte, morgens aufzustehen. Ich wusste, dass etwas falsch lief, aber nicht, was ich tun sollte. Nach einer Weile wurden meine Fehlzeiten zu viel und ich wurde von der Ausbildungsleiterin darauf aufmerksam gemacht. Ich beschloss mich von meinem Arzt krankschreiben zu lassen, um darüber nachzudenken was ich tun sollte, um mein Leben in den Griff zu bekommen. Doch ohne es wirklich wahrzunehmen, machte ich in dieser Zeit genauso mit Geschichte weiter wie vorher.
Aber dann machte es in meinem Gehirn einfach „Klick“ und ich wusste auf einmal, was ich tun musste. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, dass mein Job einfach nichts für mich war und dass ich kündigen musste. Ich erkannte, dass es für mich natürlich war Geschichte weiterzuverfolgen und es zu studieren. Es war für mich zur zweiten Natur geworden. Ich war gut darin, ich habe alles daran geliebt und ich schien nur für das Studium der Geschichte geschaffen worden zu sein. Ich entdeckte, dass Geschichte mein Ikigai war, der Grund wieso ich morgens aufstehe.
Ich liebe alles an Geschichte. Ich liebe es, wie durch das Studieren der Vergangenheit die Gegenwart auf einmal klarer und verständlicher wird. Für mich gibt es kein besseres Gefühl, als meine gesamte Gehirnleistung auf ein theoretisches Problem konzentrieren zu können oder der „Heureka“ Moment, wenn ich es löse. Ich finde es faszinierend, wie viele Faktoren zusammenspielen, um unsere heutige Welt zu ergeben und noch faszinierender, diese Zusammenhänge herauszufinden. Oder die Entdeckung einer Geschichte, die heute vielleicht in Romanen oder Filmen dargestellt werden würde, nur dass diese sich tatsächlich ereignet hat.
Aber es ist nicht nur, dass ich es interessant finde oder dass es mir gefällt. Ich bin – wenn ich dies in aller Bescheidenheit sagen darf – auch natürlich gut darin. Manchmal denke ich, meine Art zu Denken und Probleme zu lösen, sei dazu geschaffen, um Geschichte zu interpretieren. Ich habe mich schon mehrmals mit Menschen unterhalten, die Geschichte studierten oder studiert hatten und konnte sie in Diskussionen von meinen Theorien und Standpunkten überzeugen, obwohl sie vorher anderer Meinung waren. Und oft sehe ich es, dass sich inkorrekte Meinung oder Überzeugungen bilden, einfach weil zu abstrakt gedacht wird, oder zu sehr an moderne Standards gemessen werden.
Deshalb sage ich, ich erhoffe mir alles von Bildung. Es ist nicht irgendein Mittel von dem ich mir irgendein bestimmtes Ziel erwarte. Bildung, für mich besonders im historischen Sinne, ist mein Lebenssinn, der Grund wieso ich morgens aufwache. Aber konkreter besuche ich gerade das Abendgymnasium um Geschichte studieren zu können und um mich dem Lebensweg der Bildung vollständig hingeben zu können.



[1] Vgl. Koselleck 2013:151-154
[2] Bieri 2013:229
[3] Bieri 2013:231
[4] Bieri 2013:231
[5] Bieri 2013:232
[6] Bieri 2013:232
[7] Bieri 2013:233
[8] Bieri 2013:233
[9] Bieri 2013:234
[10] Bieri 2013:234
[11] Bieri 2013:238
[12] Bieri 2013:238
[13] Schopenhauer 2013:164
[14] Schopenhauer 2013:164